Es ist nicht allzu lange her, dass der Begriff ‚Lehrtochter‘ noch aktiv Teil unserer Alltagssprache war. Auch Lehrsohn ist noch nicht seit Ewigkeiten ausgestorben. In unseren Breitengraden war es früher üblich, dass Jugendliche zu einem Handwerksmeister in die Lehre gegeben wurden und dort mehr oder minder als Teil dessen Familie lebten. Nicht anders war es mit Kung Fu Meistern in weiten Teilen Chinas. Schüler wurden Teil der Familie ihres Lehrers.
Geschichtlicher Hintergrund
Häufig lernten in vergangenen Zeiten die Kinder das Kung Fu ihrer Eltern, meist ihres Vaters. (Frauen hatten zwar durchaus ihren Platz im Kung Fu, aber dazu an einer anderen Stelle mehr.) Wurden die Kinder gute Kämpfer, so bestätigte das die Fähigkeit ihres Vaters und andere Eltern sahen einen hohen Wert darin. Es kam dann vor, dass sie ihre Kinder zu jenem Sifu brachten und ihn darum baten, sie aufzunehmen und auszubilden. Stimmte der Sifu zu, dann kam das einer Adoption gleich. Ein aufgenommenes Kind lebte in der Familie seines Sifus und lernte unter dessen Obhut nicht nur die Kunst des Kung Fu, sondern alles Lebensnotwendige – eben ganz so wie ein Lehrsohn oder eine Lehrtochter im Westen.
In den Zeiten, in welchen in verschiedenen Dynastien das Praktizieren von Kung Fu verboten war, bekamen diese engen Verbindungen, die so entstanden, eine weitere, wichtige Funktion. Vertrauen war unentbehrlich, um weiterüben zu können. Jeder Praktizierende musste sich darauf verlassen können, dass die anderen Schüler keinen Verrat begingen, denn oft genug stand auf Kung Fu die Todesstrafe.
Heute
In den traditionellen Schulen und so auch bei meinem Sifu gelten ebenfalls familiäre Strukturen. So bin ich beispielsweise die jüngere Schwester meines Instruktors, denn wir beide haben denselben Sifu – also denselben ‚väterlichen Lehrer‘. Dabei ist die Idee, die Blutsfamilie zu ersetzen, jedoch weit von sich zu weisen. In den Wertigkeiten steht diese immer zuoberst.
Alter und Verwandtschaftsgrade
Das Alter innerhalb der Kung Fu Familie bezieht sich nicht auf das körperliche Alter, sondern auf den Zeitpunkt des Eintritts in die Schule. Es ist also gut möglich, dass ältere Geschwister an Lebensjahren jünger sind als man selbst.
Die Verwandtschaftsgrade sind einfach zu verstehen. Sifu (auch Frauen in dieser Position werden Sifu genannt) fungiert als Vater oder Mutter. Alle Schüler meines Sifu sind meine Geschwister. Sind sie selber Sifu und haben Schüler, sind diese meine Nichten und Neffen. Die Geschwister meines Sifu sind meine Onkel und Tanten. Der Lehrer meines Sifu ist mein Grossvater – und so weiter, und so fort.
Die Anrede als ältere Schwester, älteren Bruder, Tante oder Onkel ist respektvoll und wird mindestens den Instruktoren / Unterrichtsleitenden entgegengebracht. Sie umgekehrte Anrede als jüngere Schwester oder jüngerer Bruder gilt dagegen als unhöflich. In der chinesischen Kultur, welche diese Tradition prägt, gehört es sich nicht, jemanden als kleiner zu bezeichnen. Um beim Beispiel meines Instruktors zu bleiben, nenne ich ihn also Sihing Alex, er mich aber nur beim Namen, Linda. Simui Linda würde die Betonung auf mein jünger-sein legen, was nicht dem guten Ton entspricht.