Obwohl Shiu Ying als Ehefrau und Partnerin von Chiu Kow oft erwähnt wird, ist nur wenig über ihre Person zu lesen. Ihr Leben jedoch war nach dem, was wir wissen, sehr bewegt. Sie war eine grosse Meisterin im Hung Gar, Akupunkteurin, Ärztin, Mutter, Wohltäterin und durchlebte fast nebenbei noch mehrere Kriege.
Geboren wurde Shiu Ying (Wong Shiu Ying, auch Wong Sou Nang) 1904 in einem Dorf in San Hui. Ihre Familie praktizierte Mok Gar Kung Fu und auch Shiu Ying wurde darin ausgebildet. Sie wuchs zu einer starken Kämpferin und guten Ärztin heran.
Hochzeit mit Chiu Kow
Im Jahr 1923 heiratete Shiu Ying Chiu Kow. Sie war in ihrem jungen Alter von neunzehn Jahren bereits die Ärztin und Akupunkteurin des Dorfes. Die Verbindung zwischen den beiden Kung-Fu-Praktizierenden basierte nicht auf Verliebtheit, sondern wurde eher rational geschlossen. In dieser Zeit war es nicht üblich, dass Frauen zu kämpfen verstanden. Kung Fu war Männersache und wehrhafte Frauen alles andere als hoch angesehen. Für Shiu Ying und Chiu Kow waren jedoch genau diese gemeinsamen Leidenschaften – Kung Fu und Medizin – die Basis, welche sie benötigten. Nach der Hochzeit zog das junge Paar in Chiu Kows Heimatdorf im Distrikt Samkong. Shiu Ying wurde in dieser Zeit dreimal Mutter. Im Jahr 1927 wurde Chiu ‹William› Kam Fung geboren und Chiu Kim Ching im Jahr 1929. Zudem hatte Shiu Ying eine Tochter namens Chiu Lai Fong, deren genaues Geburtsjahr ich leider noch nicht herausfinden konnte.
Hong Kong
Ende der zwanziger Jahre, in der Anfangszeit des chinesischen Bürgerkriegs (1927 bis 1949), wurden Chiu Kow und Shiu Ying und ihre Familie durch Kommunisten bedroht. Man wollte ihnen ihren Besitz wegnehmen oder sie sogar umbringen. Sie entschieden sich, zu fliehen. Wahrscheinlich 1930 zog das Paar nach Hong Kong, wo am 10. Oktober Chiu Wai geboren wurde. Ständig darauf bedacht, ihre Fähigkeiten zu verbessern, traten Shiu Ying und ihr Mann Chiu Kow in die Schule von Lam Sai Wing («Lam Sai Wing Kwok Sutt Sair») ein. Dort lernten sie unter ihrem Instruktor und älteren Kung-Fu-Bruder Tang Hin Choi. Durch ihren raschen Fortschritt und ihre harte Arbeit weckten sie aber das Interesse von Lam Sai Wing selbst. Dieser unterrichtete das zielstrebige Paar je länger je mehr persönlich.
Chiu Kow war ein äusserst aktiver Mensch, welcher von Shiu Ying tatkräftig unterstützt wurde. Sie unterrichtete in der von ihm eröffneten Schule, arbeitete in seiner Praxis als Ärztin und vollführte gemeinsam mit ihm Kung-Fu-Vorführungen. Von diesen stammt auch die Überzeugung der Menschen, sie wäre ihm überlegen gewesen: In den Vorführungen endeten die Kämpfe immer mit ihrem Sieg.
Shiu Ying wurde trotzdem oder gerade deswegen auf den Märkten oft herausgefordert. Sie behielt stets die Oberhand. Es wird berichtet, dass sie, die von Kindesbeinen an als Akupunkteurin ausgebildete Ärztin, zielsicher Druckpunkte nutzte und so auch viel stärkere Gegner in die Knie zwingen konnte. Diese Technik nennt sich ‹Diem Yuet›.
2. Weltkrieg
1941 verliessen die Chius Hong Kong wegen des Krieges und zogen nach Kanton. Sie reisten viel, während Chiu Kow und Shiu Ying gemeinsam mit ihren Kindern in vielen Dörfern die Menschen in Kung Fu ausbildeten. Zudem arbeiteten sie wieder als Ärzte. Sie waren in ihrem Handeln allgemein willkommen und gern gesehene Gäste. Diese beinahe romantisch klingende Episode fand in einer von Chaos, Tod und Leid geprägten Zeit. Nicht nur führte China Krieg gegen Japan, sondern auch gegen sich selbst. In dieser turbulenten Phase wurde Shiu Ying erneut schwanger und brachte am 20. Januar 1943 ihren jüngsten und letzten Sohn, Chiu Chi Ling, zur Welt.
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Karitatives Wirken
Als warmherzige und mitfühlende Person legte Shiu Ying viel Wert auf karitative Tätigkeiten. Sie behandelte Patienten, die das Geld nicht aufbringen konnten, oft kostenlos und unterstützte Geldsammlungen für das Leung Guk Waisenhaus, das Tung Wah Hospital, das Gong Wah Hospital und viele andere. Diese Sammlungen wiederum bestanden natürlich häufig aus Kung-Fu-Vorführungen.
Alter und Tod
Gemeinsam mit ihrem Mann überwachte Shiu Ying bis ins hohe Alter die Ausbildung der Schüler. Auch der letzte Stilerbe, Grossmeister Martin Sewer, wurde von ihr unterwiesen.
Shiu Ying war bis zu ihrem Lebensende gesund. Nach dem Tod Ihres Mannes blieb sie in Hong Kong und lebte in der Schule. Eine Hausangestellte unterstützte sie, gemeinsam mit ihren oft anwesenden Söhnen, bei ihrem Leben. Als es auf ihren Tod zuging, verschlief sie aber mehr und mehr ihre Tage, bis sie letztendlich nicht mehr aufwachte. Sie starb als hoch geachtete Frau am 30. Januar 2002 im Alter von knapp 98 Jahren in Hong Kong.
Alle Fotos entstammen dem Buch ‹Chiu Kow Memorial Book› mit Genehmigung des Autors, Grossmeister Martin Sewer.